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07.12.2004

Die Kehrseite einer multikulturellen Gesellschaft

ist, dass wirklich alle Kulturen bemueht sind, sich in irgendeiner Weise Gehoer zu verschaffen. Bislang haben wir das nicht negativ wahrgenommen. Allerdings haben wir nicht im Entferntesten damit gerechnet, in einem gut besuchten Café in Mississauga mit DEUTSCHEM SCHLAGER aus den 70er und 80er Jahren beschallt zu werden. "Hurra! Wir leben noch! Nach jeder Ebbe kommt auch eine Flut..."

In diesem Sinne zu den vergnueglicheren kulturellen Ereignissen der letzten Zeit:

Zum 100. Male fand am 21.11. Torontos Santa Claus Parade statt. Uns wurde eine rechtzeitige Anreise empfohlen, gluecklicherweise beherzigten wir den Ratschlag. Knapp einen Parkplatz an der Subway-Station ergattert und zusammen mit Hundertschaften aufgeregt schnatternder Heranwachsender und guetig dreinschauenden Erziehungsberechtigten mit dem Subway direkt nach Downtown Toronto. Die besten Plaetze direkt an der Strasse waren schon durch Fruehaufsteher mit Campingstuehlen und entsprechendem Outdoor-Equipment (seit Stunden?) okkupiert, aber ein lukrativer Platz in der zweiten Reihe tat es auch. Nach einer Stunde gespannten Wartens (aufgelockert durch suessigkeitenverteilende Clowns) erreichte uns der weihnachtliche Umzug, eine Mischung aus Erster-Mai-Demo und Koellschem Karneval. Dabei ging es so gar nicht weihrauchbenebelt und klingelingelingbeduselt zu, der Aufmarsch bestand aus dutzenden Big Bands, von britisch-vornehm bis karibisch-temperamentvoll. Dazwischen von diversen Firmen bezahlte (ein dezentes Schild wies stets auf den Sponsor hin), bunt geschmueckte, zum Teil recht originell gestaltete Wagen mit nicht nur weihnachtlichen Motiven. Ein riesiger Schlitten, besetzt mit dem rotbemantelten letzten Erpressungsinstrument vieler ratloser Eltern, beschloss den zweistuendigen Umzug. Danach sah es in Toronto aus wie nach einer mittleren Loveparade, so dass die Stadtreinigung mit schwerem Geraet umgehend folgte.
Initiator und in den ersten Jahrzehnten der Parade der alleinige Ausrichter des Umzugs ist das Eaton-Centre, DER Einkaufstempel in Torontos City, mit mehreren ueber- und unterirdischen Etagen, durch kilometerlange Gaenge wettersicher mit dem Rest der Innenstadt und ihren Subway-Stationen sowie aehnlichen Haeusern verbunden. Im Eaton-Centre, las man unlaengst in der "Metro", einer kostenlos in der U-Bahn ausliegenden Tageszeitung, kann man die lieben Kleinen zur Zeit fuer 5$ zusammen mit dem Weihnachtsmann fotografieren lassen. Die lieben Kleinen sind jedoch keine Menschenkinder, sondern Haustiere! Hunde, Katzen, Schildkroeten usw. Der (gute) Zweck heiligt eben die Mittel.

Seither laufen in allen Shopping Malls Weihnachtsmaenner herum, die bedauerlicherweise ihre weitreichenden paedagogischen Potenzen ungenutzt lassen. Nie hat je ein Rotrock gefragt, ob das Kind artig und ordentlich ueber das Jahr war. Nach einer kurzen und praegnanten Ansprache ("Ho Ho Ho!!!") werden dem staunenden kleinen Erdenbuerger Suessigkeiten in die Hand gedrueckt. Ende des Vorgangs.

Eine Woche spaeter ging es in den Skydome am Fusse des CN-Towers, einer Sportarena, deren Dach bei gutem Wetter geoeffnet werden kann und wo normalerweise Baseballspiele stattfinden. Vom angrenzenden "Renaissancehotel" (das sich dadurch auszeichnet, dass es NICHTS von Renaissance an sich hat) kann man von einigen Suiten zu astronomischen Preisen ebenfalls direkt in die Arena schauen. Da niemand von uns bislang in der Lage war, die Baseballregeln zu durchschauen, nutzten wir eine angemessenere Gelegenheit zum Erkunden dieses neuzeitlichen Tempelbaus.
Alljaehrlich findet in Toronto in eben diesem Skydome das PowWow statt, ein Festival indianischer Kultur. Den Begriff "Indianer" sollte man hier vermeiden, vielmehr ist von Aborigines, Native Indians oder First Nations die Rede. Seine Vorstellungen ueber die Nachkommen der ersten Einwohner Amerikas kann man getrost ueber Bord werfen. Wer an uralte, unheimlich weise dreinschauende, zahnlose Maenner und Frauen denkt, die eher dem grossen Manitu gehoeren als dem irdischen Geschehen und deren vom Wetter gegerbte Haut sich kaum vom Leder der Kleidung unterscheidet - nun, der duerfte enttaeuscht werden. Die Aborigines praesentieren sich sehr vital sowohl mit lebendigen Traditionen als auch den Entwicklungen der modernen Gesellschaft folgend. Das PowWow als zentraler Bestandteil des Festivals ist ein traditionelles Wettsingen und Tanzen fuer alle Generationen mit getrennten Wertungen in den verschiedenen Altersklassen, daneben finden Filmfestivals, Modenschauen und Vortraege statt. Unsere mitteleuropaeisch trainierten Augen und Ohren haben die Darbietungen in keiner Weise voneinander unterscheiden koennen. Reges Markttreiben mit Praesentationen von Radiostationen, Plattenlabels und Buchverlagen runden die Veranstaltung ab. Der Schrecken aller Fussgaengerzonen - mittelamerikanischer Panfloetensound im Halbplayback mit Synthesizerbegleitung, die weltweit bekannten grossen Hits interpretierend - durfte selbst bei einer solchen Veranstaltung nicht fehlen, diese "Kunst" wurde aber ins Foyer verbannt. Die echten indianischen Floeten an einem Stand kamen uns bekannt vor - sie wurden in Rostock zur IGA verkauft. Im indi(ani)schen Pavillon! Zu den kulinarischen Spezialitaten der Aborigines zaehlen Kartoffelchips und Bueffel-Burger. Und - an der Wiege ist es uns nicht gesungen worden, dass wir einmal im Leben echte Indianer sehen, die Pizza essen! Den echtesten Indianer aller Zeiten haben wir leider nicht unter den Teilnehmern entdecken koennen.

Demnaechst stehen der Besuch zweier Shows im "Living Arts Centre" in Mississauga an, zum einen das "Nutcracker"-Ballett, im naechsten Jahr die "Big Comfy Couch", die Buehnenfassung einer Sendung des Kinderfernsehens. Nach dem Kauf der Karten nutzten wir die Gelegenheit, eine Ausstellung mississauganischer (sagt man so?) Amateurfotografen im Living Arts Centre zu besuchen. Dabei kamen wir, zum fruehen Nachmittag hielt sich der Andrang in Grenzen, mit der Aufsicht der Ausstellung ins Gespraech. Sie arbeitet dort als freiwillige Voluntaerin neben ihrem Teilzeitjob als Pharmazeutin. Dass Voluntaere aller Altersklassen sich mit persoenlichem Engagement in die Arbeit kultureller Institutionen einbringen, ist gaengige Praxis. Sie unterstuetzen den Zoo, Museen, Ausstellungen als sachkundige Ansprechpartner fuer das Publikum und versehen den Einlassdienst. Diese Form "privaten Sponsorings" sichert den Erhalt einiger Einrichtungen im kulturellen Sektor.
Das Living Arts Centre beherbergt neben 2 grossen Saelen eine Reihe von Werkstaetten und Ateliers fuer die verschiedensten Genres der bildenden Kunst (Glasblaeserei, Malerei, Fotografie, Grafik, Keramik...). Hier koennen Kuenstler der Stadt arbeiten und ihre Produkte verkaufen, als Gegenleistung sind sie beauflagt, Kurse fuer interessierte Laien anzubieten.

Direkt neben dem Living Arts Centre befindet sich das Rathaus, in dem Mississaugas Buergermeisterin Mayor Hazel McCallion das Zepter schwingt. Die Amtsfuehrung der energischen alten Dame (Sie ist seit 25 Jahren im Amt, 83 Jahre alt und Traegerin des deutschen(!) Bundesverdienstkreuzes) wird mit der von Margaret Thatcher verglichen, die inoffizielle Amtsbezeichnung ist "Hurricane Hazel". Wir hatten Gelegenheit, sie im Lokal-Fernsehen zu erleben, wo sie waehrend einer Livesendung Beschwerden ueber die Stadtverwaltung von Anrufern entgegennahm. Sie bestand auf die volle Nennung des Namens des betreffenden Mitarbeiters vor laufenden Kameras. Ganz ehrlich: Ein "dringendes Mitarbeitergespraech bei der Chefin" ist bestimmt nicht amuesant.
Immerhin: Mississauga ist schuldenfrei, hat seit 1978 keine Kredite mehr aufgenommen und seit der Stadtgruendung 1974 alle zehn Jahre seine Bevoelkerungszahl verdoppelt. Ist der Buergermeisterposten in Rostock eigentlich noch frei?

Der nahende Winter brachte es mit sich, dass wir mit den Kindern einen Arzt konsultieren mussten. Trotz aller Geruechte, dass man mit dem Besitz einer Kreditkarte einen hinreichenden Beweis seiner Liquiditaet erbringt: Beim Arzt gilt die Devise: "Nur Bares ist Wahres". Ohne Bargeld erfolgt nicht einmal die Anamnese und falls der Inhalt der Brieftasche keine Behandlung zulaesst, steht im Eingangsbereich des Aerztehauses... richtig, ein Geldautomat!

Sogar einen deutschen Laden fanden wir jetzt in Mississauga. Das einzige, was wir bislang in keinem anderen Geschaeft hier gesehen haben, waren Stollen (wenn auch kein Dresdner), Florena-Creme sowie Blasen-und Nieren-Tee.

Mit der Zeit wachsen unsere Kenntnisse ueber die Struktur des Schulwesens in Ontario. Neben Merkmalen, die in ausgewaehlten Teilen Deutschlands bekannt sein duerften, erschliessen sich einem Details, bei denen man sich schon fragt, warum denn die Kanadier deutlich besser bei PISA abschneiden als die Deutschen. Die Grundschule geht hier bis zur Klasse 8. Das an sich ist nicht seltsam. Bemerkenswert ist, dass bis zur Klasse 8 keine speziellen Fachlehrer ausgebildet werden, sondern Lehrer, die ein Jahr in einer Klasse fast den gesamten Unterricht in allen Faechern (oder zumindest den meisten - Franzoesisch bildet z.B. eine Ausnahme; Haertefallregelungen in Musik oder Sport (!) sind moeglich) erteilen. Nach jedem Schuljahr wechselt dann der Klassenlehrer. Ab Klasse 9 beginnt Unterricht im Kurssystem, bei dem die Schueler eine bestimmte Punktzahl erreichen muessen; in der Regel besuchen alle Schueler die Schule 12 Jahre. Ob das kanadische System darum oder trotzdem so erfolgreich ist, hoffen wir in der naechsten Zeit herauszufinden.

Am letzten Sonntag das schoene Wetter fuer einen Ausflug in Torontos High Park genutzt. Der nahende Winter und das damit verbundene geringere Nahrungsangebot (Hunger macht zutraulich!) fuehrt dazu, dass einem die Eichhoernchen aus der Hand fressen.
Am Spielplatz machten wir die Bekanntschaft einer aelteren Dame, die vor 47 Jahren aus Oesterreich nach Kanada kam. Das Gespraech war in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen wegen der verwendeten Sprache; sie sprach eine kuriose Mischung aus 50% oesterreichisch und 50% englisch, you know, what I mean, honey? Zum anderen erzaehlte sie von ihrem Leben hier in Kanada (Ist es ein Zeichen vorschnellen Alterns, wenn man dieselben Radioprogramme hoert wie eine 80jaehrige? - 99.1 CBC Radio1) und ihrem letztjaehrigen Besuch in Oesterreich. Im ersten Teil ihres Statements war sie voll des Lobes ueber die Offenheit und das entspannte Zusammenleben der vielen verschiedenen Nationen hier in Kanada. Schliesslich sind hier alle irgendwann eingewandert, da ist es angenehm und nur natuerlich, dass sich hier in Kanada (im Gegensatz zur USA) keine bestimmte Volksgruppe fuer etwas besseres haelt. Sie selbst geniesst die Voelkervielfalt in ihrer Nachbarschaft auch sehr.
Ihr Besuch in Oesterreich im letzten Jahr ist ihr jedoch nicht in angenehmer Erinnerung geblieben. Seit ihrem Weggang hat sich zuviel veraendert, die Heimatstadt an der Oesterreich-Ungarischen Grenze zu modern, und in WIEN... gut, dass es Franz-Joseph nicht mehr erleben muss: Black People und Tuerken - in Oesterreich! - you know! Unbelievable! Die oesterreichische Kultur im Sinken begriffen!
Durch subtiles Nachfragen konnte ein Hoerfehler definitiv ausgeschlossen werden.
Ratlosigkeit danach. Auslaenderfeindlichkeit an sich kommt in diesem Falle wohl nicht in Betracht. Ist die Angst vor Veraenderungen noch groesser als die Angst vor Fremdem?

Auch die Kanadier koennen mit Veraenderungen so ihre Probleme haben. Das zeigte der erste Schnee am Nikolausmorgen. Dass der gemeine mecklenburgische Autofahrer mit unerwartetem Schneefall nicht klarkommt, ist nachzuvollziehen. Wenn im Grossraum Toronto an einem Tag mit erwartetem Schneefall ueber mehrere Stunden hinweg in jeder Minute ein Autounfall registriert wird, erstaunt das den Mecklenburger auf Besuch in Kanada. Hauptursache der Unfaelle: unangepasstes Fahrverhalten!
Unser neugieriges Warten auf den ersten Schnee wurde bereits etwas belaechelt, denn: "Ihr werdet bald krank von dem vielen Schnee werden!!" Schau'n wir mal.

Zum Thema multikulturelles Zusammenleben erhielten wir heute einen spannenden Hinweis von Shemene, einer der Kindergaertnerinnen in der Gruppe von Lina und Irma. In Trinidad, woher sie stammt, werden grundsaetzlich alle Feste (ob nun Osternpfingstenweihnachten, chinesisches Neujahrsfest, indische oder moslemische Feiertage) auf der Strasse (warm genug ist's immer) gefeiert, und alle feiern mit. Beeindruckendes und beneidenswertes Resultat sind durchschnittlich 3 Feiertage im Monat fuer die gesamte Bevoelkerung!