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13.11.2004

100 Tage sind schon vorbei,

tragisch die damit verbundene Vorstellung, dass die uns verbleibende Zeit in demselben Masze schwindet. Um den Finger auch noch richtig auf die Wunde zu legen, haben wir die am 1. November erschienenen neuen Flugplaene zum Anlass genommen, fuer den 19. Juli 2005 schon mal einen Flug nach Deutschland zu buchen. Wieder mit der LTU (64 kg Gepaeck pro Person ist konkurrenzlos viel!) und um vierstellige Eurobetraege guenstiger als mit der Lusthansa.

Toronto ist nun keine fremde Grossstadt mehr, die Orientierung fast ohne Stadtplan moeglich. Immer mehr interessante Ecken geraten in unser Blickfeld. So fuehrte uns ein Besuch des Jazzcircus, einer dynamischen Mixtur aus Musik, Artistik und Tanz, auf das Gelaende einer alten Destille. Stilvoll unter Beibehaltung vieler originaler Accessiores saniert, finden sich hier Galerien, Druckereien, Restaurants, kleine Laeden und reges Markttreiben. Waehrend unseres Aufenthaltes Mitte Oktober wurde die Destillerie in Schnee und Nebel eingehuellt. Ursache waren allerdings nicht Wetterkapriolen (in Toronto hat es bis jetzt noch keinen Schnee gegeben, 100km weiter noerdlich sieht's aktuell schon etwas anders aus.), sondern der Dreh eines Films. Toronto hat in seiner Bedeutung Hollywood zwar noch nicht ganz eingeholt, bekommt aber als Drehort internationaler Produktionen immer mehr Gewicht.

Wenn nicht die Strassenbahnen in den bekannten Farben durch die Spadina- und Dundas-Street fahren wuerden, und nicht ab und an der CN-Tower Sicherheit ueber den gegenwaertigen Aufenhaltsort vermittelt, fuehlt man sich ein paar Kilometer weiter nach Fernasien versetzt. Wir befinden uns in Torontos Chinatown. Die urspruengliche Architektur ist very british, viktorianisch – um genau zu sein. Ansonsten erinnert nicht viel an die westliche Welt. Die Beschilderung ist im besten Falle zweisprachig, nur ist dieser beste Fall recht selten. Fuer gewoehnlich wird ausschliesslich kantonesisch geschrieben. Geschaeftiges Handeln seltsamer und ungewohnter Dinge aus Flora und Fauna (Lebensmittel etwa??) bestimmt das Strassenbild. In ungeahnten Mengen, verschiedensten Farben und Aggregatzustaenden werden pflanzliche Produkte unbekannten Namens feilgeboten. Die Preise der Dinge, die wir glauben, identifiziert zu haben, sind auesserst guenstig. Geschmackliche Stichproben unsererseits hatten sowohl wohlschmeckende Entdeckungen wie Eis aus Roten Bohnen (lecker!!!), als auch sehr befremdliche Reizungen der Rezeptoren zur Folge. Eine zunaechst delikat aussehende „Minisalami“ schmeckte suess, enthielt sicher noch andere Dinge ausser Fleisch (wenn ueberhaupt) und wurde ohne weiteren Umweg durch unseren Koerper wieder dem Nahrungskreislauf zugefuehrt. Getrocknete kleine blaue Fische als Snack probieren wir moeglicherweise vielleicht spaeter irgendwann einmal. Fleisch, das von Rind, Schwein, Gefluegel und Schaf stammt, wird auch englisch ausgezeichnet, es gibt aber noch mehr (uns unbekannt gebliebene) Leckereien an der Fleischtheke. Die Vielfalt an Gefluegel ist enorm, Enten haengen gerupft und mariniert(?) am Hals aufgehangen in langen Reihen, es gibt Gefluegel mit blaeulich-schwarzer Haut. (Wer kennt sich aus? Was kann das sein?). Die Praesentation der Waren ist ebenfalls exotisch zu nennen. Deutschen Hygieneinspektoren und Tierschutzaktivisten mit Herzfehlern ist von einem Besuch Chinatowns wohl dringend abzuraten. Gefluegelteile liegen unverpackt im Grabbeltisch (Bitte gut durcherhitzen! Wir haben's ohne Schaeden ueberstanden.), direkt ueber dem Regal mit den Kartoffeln steht das Waschmittel (etwa als Keimstopp?). Unuebersehbarer Bestandteil einer chinesischen Lebensmittelhandlung sind riesige Aquarien, in denen muntere Proteinspender (auch Wirbellose) auf ihre Zubereitung warten. In schlichten Pappkisten liegen in mehreren Lagen blaue handtellergrosse Krabben bereit – auch sie meist noch lebendig.

Internationale Maerkte lassen ueberdies interessante Schluesse ueber die Wertschaetzung weltlicher oder religioeser Groessen zu. Waehrend Mao Tse Tung Statuen schon ab 20 $ aufwaerts zu haben sind, sind bei Buddha mindestens 60 $ zu berappen. Zum Vergleich: Papst Johannes Paul II. steht im polnischen Geschaeft in Mississauga fuer 100 $.

Wer internationale Spezialitaeten mit groesserem Wiedererkennungskoeffizienten fuer europaeisch gepraegte Esser erwerben moechte, sollte dem St. Lawrence Market einen Besuch abstatten. Hier gibt es auf 2 Etagen in einer historischen Markthalle Staende mit internationalen Leckereien – von Deutschem Pumpernickel ueber franzoesischen Kaese bis hin zu grillfertigen karibischen Fischrouladen, in Bananenblaetter eingewickelt. Das ganze ist stilvoll, hat Charme und laesst einem das Wasser im Munde zusammenlaufen. Unser Besuch fand am Tag vor Halloween statt, so dass die Dekoration einiger Staende ganz im Zeichen dieses Festtages stand.

Halloween ist ein Ereignis grosser Bedeutung fuer Kanada. Schon am Tage unserer Ankunft im August waren in den One-Dollar-Stores (unser Hoflieferant: 1000 kleine Dinge fuer den Haushalt jeweils fuer ein Dollar. Fast unseren gesamten Hausrat haben wir dort gekauft.) Kuerbisse und gruselige Masken in mannigfaltiger Machart 3 Monate im Voraus zu erhalten. Das Bombardement mit Weihnachtsdevotionalien beginnt dagegen erst jetzt, 2 Monate vor Ultimo. Im Kindergarten wurde natuerlich ebenso Halloween begangen. Durch unsere subtile Zielorientierung waren die Maedchen bald davon ueberzeugt, dass man sich zu Halloween ueblicherweise in Hexen, Monster und dergleichen verkleidet. So ausstaffiert stapften sie dann los, um zu ihrer grossen Verwunderung zu sehen, dass sich die anderen Kinder nicht gescheut haben, hemmungslos infantilen Trieben folgend, als Prinzessinen und Piraten zu erscheinen. In unserm Hause in der Halloweennacht dann auch spezielle Vorkehrungen. Fawzia, die als Superintendent fuer das Wohl des Hauses zustaendig ist, hatte Dienst im Foyer des Hauses und fing alle um Suessigkeiten bemuehten Gespenster mit reichlichen Gaben ab, um ihnen (und vor allem den Mietern!) den lautstarken Weg durch das Haus zu ersparen. Sieger des Kostuemwettbewerbes war ein Osama-bin-Laden-Gespenst.

Durch den multikulturellen Charakter der Gesellschaft bedingt erleben wir auch die Festivitaeten anderer Bevoelkerungsgruppen. Seit dem 15.10. begehen die Moslems in diesem Jahr den Ramadan. Selbst wenn einem das niemand gesagt haette, ist das nicht zu uebersehen, oder besser: zu ueberriechen. Puenktlich ab Sonnenuntergang duftet es im Haus nach Gesottenem und Gebratenem vom feinsten, die Familien besuchen sich gegenseitig und bringen ihren Beitrag zum gemeinsamen Essen auch gleich mit. Speziell ueber die afghanische Kueche koennen wir aus eigenem wiederholten Erleben berichten, dass sie dem verfuehrerischen Duft auch ein ebensolches Geschmackserlebnis folgen laesst.
Dementsprechend sind tagsueber auch einige sonst gut besuchte Restaurants gaehnend leer. Und – eine Kehrseite hat die Medaille, die unsere ersten Besucher auch jeweils erleben durften. Essen macht muede, viel Essen macht sehr muede, da kann es schon mal vorkommen, dass man beim Essen einschlaeft, den Topf aber noch auf dem Feuer hat. Fuer solche Faelle verfuegt unser Haus ueber eine Feueralarmanlage, die nachts mit besonderer Emsigkeit ihren Dienst versieht. Zwei mal hatten wir bereits das Vergnuegen, zu nachtschlafener Zeit die Kinder in den Schlafsack zu stecken und mit ihnen auf dem Arm elf Stockwerke die Treppen nach unten zu eilen. Stets ist die Feuerwehr schneller von der nahen Feuerwache ueber die Strasse gefahren, als wir fuer den Abstieg benoetigen. Die Sicherheit, in einem Ernstfall schnell Hilfe zu erhalten, beruhigt – aber muss man daran immer nachts um 1:00 Uhr erinnert werden?

Was isst der Kanadier? Da sich hier jeder nach seinen Vorlieben ernaehren kann, bietet also der einschlaegige Handel kaum Anhaltspunkte fuer die klassischen Ernaehrungsgewohnheiten der alteingesessenen Bevoelkerung. Aufschluss hierueber erhoffte ich mir von der Teilnahme an der XXVI. Konferenz der PME-NA (Nein, leider kein Treffen von Spitzenkoechen, sondern – jedoch auch nicht uninteressant – die jaehrliche Zusammenkunft der nordamerikanischen Abteilung der Gesellschaft fuer Psychologie in der mathematischen Bildung, in diesem Jahr in Toronto) in einem ****Hotel. Das Tagungsprogramm war umfassend, so dass – entgegen den ortsueblichen Gepflogenheiten – das Programm mit dem Fruehstueck ab 7:30 Uhr begann. Wow, ein kanadisches Fruehstueck im 4-Sterne-Hotel!!! Vorfreude – schoenste Freude.... Das Fruehstueck bestand am ersten Tag aus kleinen Keksen und Minikuchen – an den naechsten Tagen immerhin ergaenzt durch (Great Britain liess gruessen!) Ham & Eggs bzw. Bratwuerste. Das Verdauen dieses in Art und Umfang sehr unerwarteten Menues wurde durch ausreichende Bereitstellung von Kaffee (in diesen 3 Tagen muessen einige Barrel davon geflossen sein!) gelindert. Stets zur Verfuegung steht Wasser, dass ueblicherweise ohne Kohlensaeure gereicht wird. Das Mittagessen wurde mit groesserer Aufmerksamkeit bedacht, reich belegte Sandwiches (am zweiten Tag auch Nudeln), vielfaeltige Gemuese (bissfest) und Salate erfreuten nicht nur das Herz. Das gemeinsame Abendessen am Freitag war eine Mahlzeit, die man in diesem Umfang in Deutschland eher zur Mittagszeit erwartet. Auch hier fiel positiv auf, dass Gemuese nicht bis zur Unkenntlichkeit zergart wurde. Die Speisen waren durchweg pikant gewuerzt, was einige Tagungsteilnehmer nicht davon abhielt, prophylaktisch und ohne vorher auch nur zu kosten, Unmengen von Salz und Pfeffer ueber den Tellern zu verklappen. Der Umgang mit Gewuerzen ist also mitunter sehr ungezwungen.
Aber war das nun typisch kanadisch? Klar scheint nur zu sein, dass das Mittag in Kanada spartanisch ausfaellt, zahlreiche HotDog-Verkaeufer freut es. Vielleicht besteht das Geheimnis der kanadischen Kueche darin, dass es sie gar nicht gibt. Einen Hinweis auf diese Behauptung habe ich in der Bestellliste eines Catering-Services gefunden. Neben Gerichten aus aller Herren Laender finden sich in der Rubrik "Canadian Food" ganze 2 Eintraege: Onion Rings (gebackene Zwiebelringe) und French(!) Fries, also Pommes! Das war's.

Interessanterweise reagierten kanadische Tagungsteilnehmer auf mein Interesse fuer das kanadische Bildungssystem reichlich erstaunt. Sie sind der Ansicht, dass die positiven Testergebnisse bei PISA nicht heissen muessen, dass auch das kanadische System ein gutes solches ist. Um ein gutes System zu sehen, sollte ich mal bei den Kollegen aus den USA nachfragen – was ich auch umgehend tat. Die sahen die Sache nun gar nicht so, sondern meinten, sie haetten auf ihren Reisen nach Germany bessere Schulen gesehen. Auf Nachfrage stellte sich dann oft heraus, dass es Gymnasien im Suedwestdeutschen waren, die wohl nicht die gesamte Vielfalt der Bildung im Land der Dichter und Denker widerspiegeln. So werde ich mich wohl weiterhin fuer die kanadischen Verhaeltnisse interessieren. In Kanada gibt es im Uebrigen ausschliesslich Ganztagsschulen. Zu einer Ganztagsschule wird man hier aber nicht, indem man Antraege ausfuellt, ein paar Arbeitsgemeinschaften erfindet und eine Urkunde in das Sekretariat haengt, um ein paar zusaetzliche Stunden zugewiesen zu bekommen. Der Unterricht beginnt einfach nur erst gegen 9:00 Uhr und endet dementsprechend spaeter.

Von den Kolleginnen und Kollegen aus den USA (aber natuerlich nicht nur von ihnen!) habe ich einen sehr angenehmen Eindruck behalten. Ungezwungen, kooperativ und aufgeschlossen – und (wie jemand am Fruehstueckstisch mutmasste) wohl nicht G.W. Bush waehlend. Womoeglich trifft das nicht auf die Gesamtheit der Bevoelkerung im einzigen Nachbarland Kanadas zu. Unsere ersten Besucher machten den Versuch, nach einer Visite bei den Niagarafaellen mal schnell ueber die Grenze zu schauen – man weiss ja wie das geht, wenn man nach Polen faehrt. Oder auch nicht. Nach dem fachgerechten Auseinanderschrauben und anschliessenden Zusammenbauen des Autos (vielleicht sollten wir doch mal hinfahren, das rechte Fenster unseres Autos laesst sich nicht betaetigen!), durften sie ihre Paesse abgeben und warten. Als sich nach mehr als einer Stunde nichts tat, verlangten sie die Paesse von den genauso erstaunten wie unfreundlichen Grenzern zurueck und traten unverrichteter Dinge die Rueckfahrt nach Mississauga an. Kanada ist also gross genug fuer uns. Die Verlaengerung unseres Aufenthaltes hier werden wir nun auf dem Dienstweg und nicht ueber eine Wiedereinreise in Angriff nehmen.

So nebenbei bleibt auch Zeit fuer etwas Amuesement. Ausstellungen von Modigliani – Portraits und Picasso – Keramiken sind derzeit in Toronto zu sehen, das Kindermuseum in Kitchener ist wirklich eine Reise wert - die musikalische Untermalung der Aktivitaeten erfolgte nicht mit Kindermusik, vielmehr wurde bis hin zu modernerem Jazz nicht ganz leichtverdauliches angeboten. Die Kinder hat das ueberhaupt nicht gestoert! Generell wird viel dafuer getan, Kindern den Aufenthalt in Museen und Ausstellungen angenehm zu gestalten. Fast immer sind reichhaltige Angebote fuer Bildung und Unterhaltung der Kinder vorhanden.
Ein Abend in einem Jazzclub in Toronto (ohne die lieben Kleinen!) war ebenfalls sehr angenehm, aufgefallen ist hier der Geldautomat im Inneren des Lokals, der ein Verlassen des Clubs bei noch mehr Hunger und Durst als geplant ueberfluessig macht.
Ein reizvolles Gebaeude in Toronto haben wir ebenfalls in Augenschein genommen - Casa Loma. 1914 im Stil einer mittelalterlichen Burg gebaut, konnte es sein Besitzer, ein Grossindustrieller, nur 10 Jahre betreiben, danach war er pleite. Mehr Haustelefone als Telefone im Rest Torontos seinerzeit, der erste elektrische Lift Kanadas und weitere nette und teuere Spielereien (ein Geheimgang vom Arbeitszimmer in den Weinkeller!!!) koennen jetzt im Museum bestaunt werden.

Fuer grosse Irritation sorgte vor zwei Tagen der Verkaeufer eines HotDogs, der mir beim Ueberreichen der Fastfooddelikatesse ein "God bless you!" (Gott schuetze dich!) mit auf den Weg gab. War der Wunsch etwa noetig? Nun weiss ich, dass Gott auch den Verdauungstrakt von Atheisten schuetzt.