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7. September 2004
Gut Ding will Weile haben...
ist ein altes kanadisches Sprichwort und so haben wir uns auch standesgemaess einen Monat Zeit gelassen, die Eindruecke und Ereignisse des ersten Monats hierzulande bitweise zu verschluesseln. (Die Ausrede fuer die Verzoegerung folgt weiter unten.) Da die Eindruecke recht ungeordnet auf uns einstroemten, laesst auch dieser kleine Bericht moeglicherweise hier und da einen roten Faden vermissen. Egal! Los geht's:
Der
Flug nach Kanada verging wie imselben, Umsteigen in Duesseldorf, Flug
ueber Groenland ohne Wolken; am 3.August gegen 21:30 Uhr betraten wir
kanadischen Boden. Sechs Stunden Zeitverschiebung heisst, dass unsere
innere Uhr noch auf 3:30 Uhr am naechsten Morgen zeigte, die innere
Uhr sollte sich erst nach zwei Tagen eingepegelt haben. Am Flughafen
grosse Hektik, Kontrollen, Befragungen mit dem Ergebnis, dass wir
trotz aller Vorbereitungen zunaechst eine Aufenthaltserlaubnis fuer 6
Monate bekamen, dazu Hinweise, wo man die Verlaengerung zu beantragen
hat. Bei DER Buerokratie haben wir uns gleich wie zu Hause gefuehlt.
Einen besonderen Empfang haben sich wohl auch ein paar deutsche
Urlauber erhofft, die sich bei der Passkontrolle am Schalter mit dem
Schild 'bi-lingual' anstellten, denn: „Das heisst zweisprachig
– Die sprechen da auch DEUTSCH!“ Leider waren wir am
Nachbarschalter schneller dran. 
Den Kindern fiel ploetzlich auf,
dass die Grosseltern ja auf einmal sehr weit weg sind und wuerdigten
diese Erkenntnis mit lautem Wehklagen. 
Am Gepaeckschalter dann
die Einsicht, dass man fuer 25 EUR im Marktkauf zu Rostock schoene
EINWEG-Koffer erstanden hat – ein Flug von Berlin nach Toronto
reichte, um irreversible Gebrauchsspuren zu hinterlassen. An beiden
Koffern – natuerlich!


Im Foyer dann ein Schild mit unseren Namen – Aziz, Schwager unserer afghanischen Freunde aus Rostock, holt uns ab. Fahrt durchs naechtliche Mississauga (genaugenommen befindet sich auch 'Lester B. Pearson International Airport' nicht in Toronto, sondern in Mississauga). Fuerstliches Abend(?)-Essen. PlumpsUmfallenSchlafen. Unsere Wohnung ist zum Zeitpunkt unserer Ankunft noch in der Kosmetik, so dass wir in der ersten Woche Gaeste von Aziz und Fawzia – seiner Frau – sind.
Positive Ueberraschung ist die Wohnung.
Gemaess der Lage im Stadtplan hatte man zu befuerchten, dass wir an
einer vielbefahrenen Hauptstrasse
in Mississauga wohnen. Das stimmt zwar auch, aber nur im Prinzip. Wir
schauen auf den 'Hinterhof' und sehen einen Bach, viel Gruen und im
Hintergrund Toronto mit seiner markanten Silhouette. Allerdings auch
eine Schule. Man kann eben nicht alles haben. 
Ein Blick nach
rechts vom Balkon im 11. Stock – Sie sehen heute: DAS MEER!
Beinahe ruhige Wohngegend. 


Das Haus selbst ist so alt wie Mississauga, also ca. 30 Jahre. Insgesamt 13 Stockwerke. Peinlich genau ist man bemueht, die Zahl 13 zu vermeiden. In keinem Flur gibt es ein Appartment #13 und der 13. Stock heisst PH (=Penthouse).
	 
Unsere
	Wohnung im kleineren Haus: links aussen, genau hinter dem
	Baumwipfel.
Burhan, der hier im
Haus als Techniker arbeitet und vorher schon in Afghanistan, Iran,
Indien und Daenemark gelebt hat, hat so etwas seltsames ausserhalb
Kanadas auch noch nie gesehen. 
Fuer unsere Wohnung zahlen wir 900$ (:1,63=>552
EUR). Heizung, Wasser und Strom inklusive. Dementsprechend wird auch
mit der Energie umgegangen. Eine Moeglichkeit, im Winter individuell
die Temperatur der Heizungen zu regulieren, gibt es nicht, es sei
denn, man oeffnet das Fenster. 
Das Waschen der Waesche erfolgt in
der hauseigenen Muenzwaescherei, nach 1 ½ Stunden ist die
Waesche einer ganzen Woche Geschichte. Einmal Waschen sind 2$,
Trocknen fuer 1,50$. That's it!
	
Blick
	auf das Rathaus 
	
Mississauga
selbst hat in diesem Jahr sein dreissigjaehriges Bestehen gefeiert.
Entstanden aus einer Reihe von kleinen Vororten Torontos, recken sich
die ersten Wolkenkratzer gen Himmel. Theater, Rathaus und Bibliothek
fallen durch eine seltsame Architektur auf. Die Uhr
in der Spitze des Rathausturms kann von innen begangen werden. Da
die Zifferblaetter aus Glas sind, bietet sich ein toller Blick ueber
Mississauga.
Das Leben in Mississauga wird als angenehm und
stressfrei beschrieben. Gegenueber Toronto ist die 'gefuehlte
Kriminalitaet' kleiner, Konflikte zwischen verschiedenen
Bevoelkerungsgruppen gibt es nicht wirklich. 
Wir haben auch nichts Gegensaetzliches beobachten koennen.
Unsere Sorgen, ein Jahr lang auf Vollkornbrot und Kohlrouladen verzichten zu muessen, haben sich sehr schnell als unbegruendet erwiesen. Jede Volksgemeinschaft hat auch ihre eigene Handelsorganisation aufgebaut, so dass man polnisches Brot im Supermarkt bekommt, ein serbisches Spezialitaetengeschaeft offeriert serbische Marmelade, deutschen Vanillezucker und selbstgeraeuchertes Fleisch und Kaese. Chinesische, indische, karibische Maerkte warten auf Entdeckung. Hunger und Durst leiden wir also nicht, auch wenn die eine oder andere Besonderheit auffaellt. Statt Vanillinzucker gibt es im Supermarkt ein fluessiges ungesuesstes Vanillearoma, durch Zuckerkoloer braun gefaerbt, Quark oder Frischkaese muss mit Sour Cream imitiert werden und 'Philadelphia' der Firma 'Kraft' gibt's zwar, allerdings versteckt sich in der bekannten Schachtel Schmelzkaese. Dr. Oetker Puddingpulver soeben probegekocht, ist so garantiert nicht in Deutschland erhaeltlich!!! Haehnchenfluegel kosten doppelt so viel wie Haehnchenschenkel (!) – der Markt bestimmt den Preis. Die Preise von Schweine- und Rindfleisch unterscheiden sich deshalb nicht, weil Rindfleisch wie alle anderen Lebensmittel auch nicht besteuert wird, Schwein oder Schaf hingegen schon. Und bei McDonald's gibt's keinen McRib!
Ein Absatz zum Alkohol: Alkohol wird nur in staatlichen
Beer- und/oder Liquor-Store's feilgeboten. Damit im Ernstfall niemand
verdursten muss, sind diese Laeden auch im Stadtplan verzeichnet.
Fuer 2 Liter Bier werden ca. 11$ aufgerufen. Die Preisunterschiede
zwischen amerikanischem Budweiser und Pilsner Urquell sind marginal.
In Anbetracht der Tatsache, dass wir bislang nicht dem motorisierten
Individualverkehr angehoeren, haben wir auf diese Form des Luxus
verzichtet. OK- nicht ganz. In Toronto haben wir in einem Restaurant
ein kanadisches Bier verkostet. Auf Empfehlung des Kellners tranken
wir KEITHS, und wir waren nicht enttaeuscht. Kanada ist uebrigens
auch ein Weinland. Hier in der Gegend sind vor geraumer Zeit
Weinbauern aus Deutschland gelandet und haben es geschafft, weisse
und rote Weine zu kultivieren. Besonders gut gedeiht hier Eiswein.
Eine spezielle Weinhandlung ist schon entdeckt
worden.
Ladenschlussgesetze sind unbekannt. Einige Maerkte haben
rund um die Uhr auf. Am letzten Sonntag war Lutz sogar beim Friseur
(Ja, da waechst noch was!). 
Kanada ist offensichtlich ein Einwanderungsland, man
sieht hier Menschen aller Hautfarben; Weisse sind in der Minderheit
und dann auch haeufig aus Polen oder Serbien. Dem 'Otto
Normalkanadier' sind wir somit noch nicht begegnet. 
Das
Zusammenleben der Leute scheint sehr entspannt zu sein. Man ist
freundlich und interessiert, da WIR mit zwei blonden Kindern die
eigentlichen Exoten sind, ergibt sich des oefteren mal im Bus, im
Fahrstuhl oder auf dem Spielplatz ein kleiner Smalltalk.
Uebereinstimmend begegnet man uns mit Verwunderung, warum wir aus dem
reichen Deutschland nach Kanada kommen, wo das Leben doch in Kanada
mehr Haerten bereithalten soll. Sicher ist Kanada kein
Schlaraffenland, gut bezahlte Arbeit mit familienfreundlichen
Arbeitszeiten ist rar, aber Informationen ueber HARTZ 4 und
Montagsdemos haben wir hier weder im Fernsehen noch in der Zeitung
gesehen.
Ja, richtig gelesen! Wir haben ein TV-Geraet erworben.
Auf Empfehlung einer Reihe von Leuten, die nach Kanada kamen, ohne
auch nur ein Wort Englisch zu koennen und die Sprache im Wesentlichen
ueber die vielgeschmaehte Glotze gelernt haben. Das Fernsehprogramm
bietet zu unserer grossen Ueberraschung keine Ueberraschungen. Es
gibt diverse Talkshows (Oprah Winfrey und Letterman sind wohl auch in
Deutschland bekannt), die Nachrichten sind staerker als in
Deutschland bemueht, persoenliche Schicksale zu zeigen und damit
emotionaler zu wirken. Und es gibt eine voellig abgefahrene Sendung,
wo sich 10 Leute in einen Container einsperren lassen und ueber
mehrere Wochen unter staendiger Kameraueberwachung....
Zumeist
laeuft bei uns TREEHOUSE, ein werbe- und gewaltfreier Kinderkanal mit
anbietbarem Programm fuer Kinder im Vorschulalter.
Bislang sind wir auf den bezahlbaren oeffentlichen
Personennahverkehr angewiesen. Zehn Fahrten fuer Erwachsene kosten
19$, eine Wochenkarte 20$. Unsere Kinder zahlen nur in Toronto einen
geringen Fahrpreis. Fuer eine Einzelfahrkarte kann man sich ca. 2
Stunden in Mississauga auf allen Linien bewegen, somit kommt man mit
1,90$ schon mal ueber einen kleinen Einkauf. Mississauga verfuegt
ueber ein weitverzweigtes Busnetz, das auch eine Subway-Station
Torontos bedient. Somit haben wir es auch schon auf CN-Tower
geschafft, den hoechsten Turm der Welt. Pikanterweise ist ein Teil
des Fussbodens in 340m Hoehe mit Glas
ausgelegt, was die Kinder zum Toben und die Erwachsenen zur
ehrfuerchtigen Andacht anregt.
Die grenzenlose Geduld und
Freundlichkeit der Busfahrer hat zur Folge, dass praktisch kein
Fahrplan eingehalten wird, aus diesem Grund ist fuer die meisten
Stationen auch keiner verfuegbar. Man stellt sich eben an und wartet.
Der erste(!) Punkt der Befoerderungsbedingungen von Mississauga
Transit lautet uebrigens 'Fahrgaeste muessen bekleidet sein und
Schuhe tragen!'
Das Leben in Kanada ist zumindest nicht langweilig. Ueberraschungen kommen grundsaetzlich aus voellig ungeahnten Ecken.
Der Kauf eines Autos schien eine Kleinigkeit zu sein, bis uns ein Autohaendler freundlicherweise darauf aufmerksam machte, einmal Erkundigungen ueber Autohaftpflichtversicherungspraemien einzuziehen – mit dem Ergebnis, dass man, so man ueberhaupt eine Gesellschaft findet, die Inhaber internationaler Fuehrerscheine versichern moechte, durchaus 500$ einplanen kann. Monatlich, versteht sich. Der Trick ist nun, ueber einen deutschen Versicherungsmakler eine US-amerikanische Versicherung zu bemuehen, die auch kanadische Autos versichert. Macht trotzdem 2000 EUR fuer 10 Monate. Dafuer wurde das Auto etwas billiger als urspruenglich geplant. In der naechsten Woche soll sich da etwas bewegen.
Die Anmeldung eines Telefons schien beim Besuch im Buero von BELL CANADA zunaechst reine Routine zu sein. 'Kein Problem, in 2 Tagen funktioniert's von ganz allein. Einfach ein Geraet einstoepseln...' 2 Tage spaeter: 'Da muss ein Techniker kommen!' Zwei Termine innerhalb einer guten Woche verstrichen, ohne dass ein Monteur durch eine offene Tuer in das Haus gelangt waere. Nach 2 Wochen und dem dritten Termin dann der Erfolg. Das Procedere erinnert fatalerweise an die Praktiken der Deutschen Telekom.
Die Lieferung des Notebooks war auch erst in der dritten Woche nach der Bestellung moeglich, nachdem man stets kleinschrittig auf neue Termine vertroestet wurde. Diesmal lag's am fehlenden Win XP Professional, das man in Britsh Columbia, 3 Zeitzonen von hier entfernt, nicht auftreiben konnte. Die Entschuldigung hierfuer ist stets 'BACK TO SCHOOL', eine Art Volksfest in den Sommerferien, kraeftig beworben vom hiesigen Einzelhandel, bei dem ganz Kanada umzieht, sich neu einrichtet, Kabelfernsehen oder Telefon bestellt, Moebel kauft... Everyone is busy, aber Ferien sind trotzdem, so dass erfahrungsgemaess um diese Zeit alles nicht so richtig schnell geht. Die internetlose Zeit haben wir mit Besuchen in der Zentral-Bibliothek ueberbrueckt, wo jedermann kostenlos das Internet an speziell eingerichteten Computern (konfiguriert von pfiffigen Admin's – Respekt!) nutzen kann. Der Bestand an Buechern ist betraechtlich und von hoher Qualitaet, auch wenn J.M.Simmel hier zu haben ist, fuer Kenner und Liebhaber gehobener Literatur natuerlich im deutschsprachigen Original.
Ein Kindergarten ist
auch schon gefunden, ein Halbtagsplatz fuer beide Kinder zusammen
kostet 235$ pro Woche. Pro Minute verspaetetes Abholen wird eine
Gebuehr von 1$ berechnet. Das sind allgemein uebliche
Gepflogenheiten. Zahlbar ist der Betrag auch bei Krankheit oder
Urlaub der Kinder. Trotzdem hatten wir beim Besuch des Kindergartens
ein gutes Gefuehl, denn nach 5 Minuten waren unsere Kinder
verschwunden und spielten. 
Eine Freundin serbischer Herkunft hat
sich auf dem Spielplatz auch schon gefunden, die Kommunikation hat
fuer Erwachsene nicht nachvollziehbar mit nur (fast) einem einzigen
Wort (Come on! [Oder Common?]) hervorragend funktioniert. 
Irma
und Lina koennen, von einzelnen Vokabeln abgesehen, noch nicht
wirklich englisch sprechen, aber vor allem Lina 'spricht' im Spiel
mit den Puppen „Englisch“ - ein totales Kauderwelsch,
dessen Sprachmelodie aber verblueffend dicht am Original ist. Mit
Sicherheit werden die Kleinen ihre Eltern in Sachen Englisch bald
ueberholt haben.
Sehr zur Freude von Lutz gibt es hier so gut wie keine freilaufenden Katzen, 2 Stueck in fuenf Wochen machen wirklich nicht satt. Dafuer laufen hier Heerscharen von Eichhoernchen in allen Farbschattierungen herum, die sich zum Leidwesen der Kinder nicht fangen lassen. Seltsam bunte Voegel und auch Waschbaeren tummeln sich gleich hinter dem Haus.
Soviel bislang. In der naechsten Zeit soll die Umgebung per Auto erkundet werden. Staedte(?) wie Dresden, Paris, London, Heidelberg, Hanover, Holstein oder New Hamburg warten auf unseren Besuch. Die Stadt Kitchener hiess bis Anfang des letzten Jahrhunderts Berlin. Lassen wir uns ueberraschen!
Irma, Lina, Ines & Lutz